Vetter Ulrich

Ulrich war auf Familienfeiern bisher – sagen wir einmal: unauffällig. Weniger höfliche Verwandte meinten, Ulrich sei ein Langweiler, bestenfalls ein minismall-talker in vorgestanzten Hohl-Formeln.

Jedoch mit seiner funkelnagelneuen Digital-Kamera wirkt Ulrich jetzt auch ganz neu: Bei Johannas Taufe drängten sich die Typen vom 1. und 2. und 3. Verwandtschaftsgrad um ihn, junge Mädchen, ältere Onkel, und starrten auf diese kleine Glotze auf der Rückseite seiner Kamera.

Der Grund: Sein Ding hatte 5 Millionen Pixel und die Bilder konnten sofort auf – ich glaube MP3 oder so was - gespeichert werden. Und vertont. Und unterlegt mit Stimme. Und gleich bearbeitet. Bearbeitet: Das heißt, Ulrich bzw. seine Kamera kann Hässliches löschen und Hübsches hervorheben. Beispiele:

Ulrichs und meine gemeinsame Großtante Ulrike, ebenso alt wie - angeblich - wohlhabend und eitel, mochte sich auf Ulrichs Super-Digital-Gruppenfoto wegen der verrutschten Perücke gar nicht leiden und protestierte. Großtante war kurz vorher von mehreren Verwandten, die früher fahren mussten, geküsst und umarmt worden.

Tante Ulrike ist eben - angeblich - wohlhabend und kinderlos. Aber die verrutschte Perücke machte nichts: Ulrich kopierte von einem der vorherigen Fotos die unverrutschte Perücke samt Kopf von Tante Ulrike auf dies endgültige Bild. Und dasselbe machte er mit dem wahrlich ebenso großherzigen wie hübschen Dekollete von Cousine Yvonne.

Am Vortag trug Yvonne nämlich noch eine leichte, offene Bluse. Auf dem Abschiedsgruppenfoto aber eine Jacke von ihrer Großmutter, die alles Schöne verdeckte. Auch Yvonnes Blusenbild (mit ihrem Kopf natürlich) konnte in das abschließende Gruppenfoto reinkopiert werden.

Mit einem Wort: Wir sind allesamt auf diesen neuen SuperBildern derart perfekt, wie nie in einem Moment sonst. Ulrichs Wunderding macht's. Und so, wie wir uns alle im Digital-Zeitalter solange abbilden, bis wir perfekt sind, werden auch die größten Langweiler einer Gesellschaft Stars. Technik vorausgesetzt, die die Langeweile kompensiert.

Denn auf nichts sind wir ja so scharf, wie darauf, uns so scharf und perfekt wie möglich selbst ansehen zu können. Der arme Narziss vor seinem Spiegelbild in jener Pfütze: Ihm fehlte eine Digitalkamera. Dafür haben wir heute immer mehr Narzissen - eben wegen der Kameras.

 

18.05.2004